Decke | Blanket „The Gothic Cathedral”


Ich hatte im letzten Sommer eine ganze Menge schwarzes Baumwollgarn bestellt, welches ich gerne für eine neue Decke verwenden wollte. Es war ein nachhaltiges Garn, aus recycelter Baumwolle, nicht ganz glatt verzwirnt, eher mit kleinen Unregelmäßigkeiten im Faden, und es wollte mir einfach so gar kein passendes Muster dazu von der Nadel hüpfen. In diesen Momenten lasse ich mich dann treiben und gehe auf Inspirationsreise: Fotos anschauen, gedanklich auf Reisen gehen, visuelle Eindrücke neu bewerten und im Kopf umbauen. 

Plötzlich sah ich die schöne Abteikirche „Eglise de la Trinité” wieder vor mir, die wir bei einem unserer Stopps in Vendôme, Frankreich, besichtigt hatten. Meist kriecht man als Nebelschnecke ja vornehmlich auf dem Boden rum, mal von der Eroberung der einen oder anderen Mauer abgesehen, umso mehr bin ich immer wieder von der Erhabenheit der Kirchenbaukunst beeindruckt. Eigentlich muss man sie ja Kathedralen nennen, und wer schon einmal Ken Folletts Roman „Die Säulen der Erde” gelesen hat, weiß, welche Eingebungen und Ideen die Baumeister dieser architektonischen Meisterwerke hatten. Ob Sie nun eher den romanischen, gotischen, neogotischen, neoromanischen, barocken oder sonstwie gearteten Baustil bevorzugen, ist, so denke ich, reine Geschmackssache. 
Ich renke mir leider nur stets mit schöner Regelmäßigkeit mein Schneckenhaupt aus, um die prachtvollen Säulen, Kapitele und Gemälde zu betrachten. Aua. Aber was tut man nicht alles für die Schneckenkunst.



Nebenbei bemerkt ist Vendôme ein schönes Städtchen im Département Loir-et-Cher in der Region Centre-Val de Loire, also im Gebiet des Loir, dem kleinen Bruder des grossen Flusses Loire. Es war eine der ersten großen und beeindruckenden Kathedralen, die wir uns anschauten, wahrscheinlich hat sie mich auch aus diesem Grund wirklich nachhaltig inspiriert, und das nicht nur für diesen Blogbeitrag
Und so sah ich mit der Erinnerung an La Trinité wieder den imposanten Flamboyant-Stil vor mir, die enormen Spitzen und hohen Bögen in der Architektur, die Rautenformen auf den Bodenplatten und die klare Farbtrennung der Kirche in fast nur schwarz, grau und weiss bis beige. Na hoppla, das passte doch. Das schöne Ajourmuster, das eigentlich aus sehr viel kleineren Reihenrapporten besteht, habe ich flott umgeschrieben (man verzeihe mir als Schnecke diesen Wortwitz) und unter Berücksichtigung meiner Idee angepasst.

Das Muster besteht eigentlich aus zwei Strickschriften, die miteinander kombiniert werden. Oben und unten in den Randbereichen verlaufen lange spitze Elemente, und im Mittelteil reihen sich spitze lange Elemente neben- und übereinander, nur unterbrochen durch schmale Säulen und Rauten. Das alles geschmückt mit den Ajouren, den sogenannten Durchbrüchen. 
Hier strebt alles nach oben, und damit dem göttlichen Licht entgegen. Gleichzeitig fallen Schatten auf weisse Statuen und tauchen Teile davon in ein sattes Schwarz. Helle Steine wechseln sich ab mit schwarzen geometrischen Fliesen, und das Licht bricht sich seinen Weg durch die hohen Fenster. Fast schon magisch sucht es sich seinen Weg entlang der wenigen farbigen Gläser, wie ein morgendlicher Triumphzug nach einer samtig dunklen Nacht.

Da wir gerade bei Ajourmustern sind: Ich werde oft gefragt, ob es denn nicht eine unheimliche Zählarbeit sei, Ajourmuster zu stricken. Ich finde eigentlich nicht, nach ein paar Rapporten haben sich die Wiederholungen im Muster gedanklich abgespeichert und ich muss nur ab und zu noch zur Überprüfung die Strickschrift kontrollieren. Wenn ich mich jedoch verstricke, ärgere ich mich wie bei jedem anderen Muster auch. In den meisten Fällen liegt es dann am Umschlag oder an den Maschenabnahmen, aber da es sich sehr schnell in der nächsten Reihe bemerkbar macht, ist dies überschaubar. Natürlich muss ich die Reihe wieder auflösen und neu auffädeln. So ist das Leben von Nebelschneckentierchen eben. Geduld gehört eindeutig dazu.
 
Den Faden habe ich bei meiner Strickarbeit mal wieder doppelt genommen, das mache ich ganz gerne, auch oder sogar gerade bei Ajour- oder Lacemustern. Ich mag den Bruch, wenn Ajouren eben nicht mit einer dünnen Nadel gestrickt werden, es ergibt sich dadurch ein neuer Charakter. Mein doppelter Faden passte so auch prima auf eine 5er Nadel. Bei dieser Decke habe ich übrigens keine Fransen angeknüpft, es gefiel mir so besser und lässt dem Ajourmuster mehr Raum. Ich bin immer wieder überrascht, wie reduziert und zurückhaltend ein ansonsten eher verspieltes Muster wirken kann, wenn man die passende Farbe dazu auswählt.


Vielleicht noch eine kleine Anmerkung zum verwendeten Garn: Ich habe mit einem recycelten Garn gearbeitet, das dieses matte Schwarz mitbringt, ohne den typischen Glanz einer mercerisierten Baumwolle. Um den Rohstoff für dieses Garn zu gewinnen, werden gebrauchte Baumwollstoffe mithilfe eines speziellen Verfahrens Schritt für Schritt wieder bis zur Einzelfaser aufgelöst und gereinigt. Anschliessend werden die Fasern neu gemischt und versponnen. Durch den Recyclingprozess erhält das Garn eine leichte Strukturierung und einen weichen Griff. 
Der Vergleich mit den in die Jahre gekommenen Steinen hat mir deshalb auch so gut gefallen. Auch sie bringen eine Geschichte mit, wurden zu verschiedenen Zwecken genutzt, sei es kirchlich oder weltlich, und auf jeden Fall haben sie ihre Bedeutung über die Jahrhunderte hinweg nicht verloren.

Die fertige Decke habe ich „The Gothic Cathedral”, getauft, auch wenn mir bewusst ist, dass in einem Bauwerk über die Jahrhunderte hinweg natürlich viele unterschiedliche Stile miteinander vereint sind. Sie gehört mittlerweile eindeutig zu meinen Lieblingen, und ich ringe noch etwas mit mir, ob ich sie nicht doch selbst behalten soll, aber andererseits freue ich mir auch mein Schneckenhaus rund, wenn sie bald in einer Ihrer eigenen Wohnkathedralen Einzug halten darf. Mit ihrer schwarzen Schlichtheit wirkt sie sehr edel und passt sowohl zu einer modernen reduzierten Einrichtung in schwarzen, grauen und weissen Farbtönen, als auch zu einem eher romantischen Stil, denn die Ajouren lassen an alte Spitzen denken. Es kommt dabei auf die jeweilige Kombination an. 
Ich habe die Vision einer modernen Einrichtung mit einfachen Formen, hellen und grauen Stoffen, kombiniert mit naturbelassenen oder dunklen Hölzern, um einen bewussten Bruch ins Spiel zu bringen.
Und falls meine Decke mal in Ihrem Zuhause einzieht, dann denken Sie doch auch an die vielen schönen Säulen, die Figuren, die wenigen und dennoch prägenden Farben und selbstverständlich auch an meinen Sommerurlaub in Vendôme, der mir die Inspiration geliefert hat. So verbleibt ein Stück von mir und meinem Nebelschneckenherzen in meiner Arbeit. 

Schauen Sie immer aufwärts. Herzlichst, Die Nebelschnecke.  

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